Pira Selatê – Die Brücke ins Jenseits

Art. Nr. AutorVeröffentlichungsdatumLetzte Aktualisierung
171Hayrî Demir13.07.2025
1. Etymologie

„Pira Selatê“ oder auch „Pira Silatê“ (sor. „پرا سلاته‌“) setzt sich aus den Wörtern kurd. „Pir“ für „Brücke“ und arab. „Silat“ für „Weg, Pfad“ zusammen. Das Wort „Pir“ geht auf das indogermanischen Wort „pértus“ zurück, was „überqueren“ bedeutet. Das arabische Wort „صراط“ (dt. Sirat) ist ein aus dem Lateinischen entlehnter Begriff für „gepflasterter Weg“.

Wörtlich übersetzt bedeutet „Pira Selatê“ demnach so viel wie „Überqueren des (gepflasterten) Weges/Pfades“. Nach êzîdîscher Mythologie lässt sich „Pira Selatê“ sinngemäß als „(überqueren der) Brücke ins Jenseits“ übersetzen.

2. Mythologie
Sonnensymbol am Eingang zur Pira Selatê in Lalish. Die Sonne symbolisiert den Engel Şêşims, unter dessen Aufsicht nach êzîdîscher Überlieferung die Pira Selatê steht.

Die Pira Selatê verbindet bildlich Erde und Himmel. Sie ist das materielle Gegenstück zur Brücke im Jenseits, die Himmel, Dunkelheit und Hölle voneinander trennt.

In der êzîdîschen Mythologie kommt der Pira Selatê daher innerhalb der eschatologischen Vorstellungswelt (Vorstellung von Tod und dem Ende der Welt) eine zentrale Funktion zu. Sie bildet eine Schwelle zwischen Diesseits und Jenseits (êzîdisch: Dahir û Batin) und steht symbolisch für das Gericht über die Seele nach dem Tod. Zwei Hauptaspekte sind dabei von besonderer Relevanz: Zum einen die Reise der Seele nach dem Tod, die im Sinne einer Seelenwanderung verstanden wird, zum anderen die Erwartung der Wiederkunft Şerfedîns. Dieser gilt als endzeitliche Gestalt, dessen Erscheinung das Weltenende markiert und das Herabsteigen des Schöpfers in die irdische Sphäre einleitet. Die Pira Selatê ist somit nicht nur ein jenseitiges Übergangssymbol, sondern verweist zugleich auf eine transzendente Ordnung, die auch im Diesseits wirksam ist und das moralische Handeln der Gläubigen strukturiert. Auf die Bedeutung der Pira Selatê im Diesseits – konkret in ihrer materiellen Ausprägung als Brücke im Tal von Lalish – wird im Weiteren noch eingegangen.

2.1 Seele nach dem Tod

Nach dem Tod eines Êzîdî wird die Seele von den Wächtern der Brücke, den sog. Zebênî, vor die Pira Selatê geführt, wodurch die Seele von der materiellen in die spirituelle Welt übergeht. Bevor die Seele jedoch die Brücke passieren kann, werden die guten und schlechten Taten im Leben gegeneinander abgewogen. Im Qewlê Seremergê kommt bereits hier die Funktion des Jenseitsbruders bzw. -schwester zum Tragen. Diese/r steht an der Seite der verstorbenen Seele vor der Pira Selatê und verteidigt die Handlungen der Seele.

Sollten die guten Taten überwiegen, wird die Pira Selatê breit und für die Seele passierbar. Überwiegen jedoch die schlechten Taten, so wird sie nach êzîdîscher Vorstellung so dünn wie ein menschliches Haar und damit unpassierbar. Die Seele fällt dann, je nach Auslegung der sakralen Texte, in eine tiefe Dunkelheit oder in die Hölle.

Pira Selatê im Lalish-Tal

Erst wenn die Seele die Brücke passieren kann, geht die Seelenwanderung in die nächste Stufe über und die Seele erreicht die Sûka Merifetê, dass das Tor zum Paradies darstellt und sich ebenfalls in Lalish befindet.

Aus der êzîdîschen Überlieferung Qewlê Axretê (Qewls über das Jenseits) geht zudem hervor, dass nach êzîdîscher Vorstellung menschliche Handlungen aus dem komplexen Zusammenspiel von Auge, Zunge, Herz und Verstand als Bestandteile des Körpers und der Seele hervortreten (Dualismus von Körper und Seele). Diese Instanzen stehen symbolisch für Wahrnehmung, Sprache, Emotion, geistige Urteilskraft und Triebnatur – zentrale Aspekte menschlichen Handelns. Im Moment des jenseitigen Gerichts, das auf der Pira Selatê vollzogen wird, treten diese Elemente in einen inneren Diskurs: Sie legen Rechenschaft ab über ihr Wirken im irdischen Leben und versuchen, ihre jeweiligen Anteile an guten wie schlechten Taten zu rechtfertigen und bezichtigen sich gegenseitig der Fehler. Die Brücke fungiert dabei nicht nur als Schwellenort zwischen Diesseits und Jenseits, sondern auch als Ort der Selbstkonfrontation, an dem das Individuum mit den moralischen Konsequenzen seines Lebens konfrontiert wird. Dieser Prozess veranschaulicht die tiefe ethische Struktur der êzîdîscher Eschatologie, in der Verantwortung und Selbstreflexion als integrale Bestandteile der spirituellen Ordnung verstanden werden.

2.2 Das Ende der Zeit

Die êzîdîsche Mythologie kennt eine Lehre vom Ende der Welt bzw. der Zeit, bei der die Ankunft des Erlösers Şerfedîn (Personifizierung der Religion) erwartet wird. So wie die Erde, also das Diesseits, mithilfe der Engel erschaffen wurde, so werden die Engel am Ende der Zeit das Gleichgewicht wiederherstellen. Da die Pira Selatê wie dargestellt die Brücke zwischen Himmel und Erde ist und die spirituelle von der materiellen Welt trennt, werden die Engel am Ende der Zeit auch über diese zur materiellen Welt gelangen.

Das Ende der Zeit wird vom Engel der Sonne (Şêşims) eingeläutet, unter dessen Aufsicht die Pira Selatê im Besonderen steht.

So heißt es in den sakralen Texten, dass der Engel Şêşims zunächst die Ankunft des Siltan Êzîd (Tawisî Melek) auf der Pira Selatê ankündigt. Sobald Tawisî Melek, der oberste Erzengel, auf der Pira Selatê steht, beginnt das Ende der Zeit durch Şerfedîn.

3. Ursprung

Die Konzeption der Pira Selatê und ihre symbolisch-mythologische Funktion im êzîdîschen Glaubenssystem deuten auf einen indo-iranischen Ursprung hin. Sie zeigt auffällige strukturelle und inhaltliche Übereinstimmungen mit der zoroastrischen Činvat-Brücke, die ebenfalls als Übergangsort der Seele nach dem Tod fungiert und als Ort des Jenseitsgerichts gilt.

Die Pira Selatê und die Činvat-Brücke erfüllen in ihren jeweiligen Religionen eine nahezu identische theologische Funktion: Sie sind moralisch Übergangssymbole, die das Jenseitsgericht veranschaulichen. Ihre Parallelen lassen auf tiefgreifende kulturelle und religiöse Verflechtungen zwischen dem êzîdîschen Glaubenssystem und der zoroastrischen Tradition schließen. Die Vermutung, dass beide Religionen einen gemeinsamen Ursprung in einem vor-zoroastrischen Glauben haben, während die Zoroastrier sich von diesem abgespalten und die Êzîden jene fortführten, lässt sich hier gut veranschaulichen.

Die Jenseitsbrücke findet bereits in der Avesta, der heilige Schrift der Zoroastrier, Erwähnung und dürfte somit über 3.000 Jahre alt sein. Viele weitere indigene Glaubenssysteme kennen die Vorstellung von einer Jenseitsbrücke, die die Erde vom Himmel bzw. Diesseits und Jenseits trennt, so etwa auch in der nordischen Mythologie (Bifröst).

4. Kulturelle und religiöse Bedeutung in der Praxis

Die Pira Selatê spielt auch in der alltäglichen kulturellen und religiös-rituellen Praxis der Êzîden eine große Rolle. Die Brücke liegt nur wenige Meter südlich des Lalish-Tempels und markiert den rituellen Ort, an dem die Pilger zuerst eintreffen und dort nach êzîdîscher Überlieferung sakralen Boden betreten. Die Pilger versammeln sich hier zunächst und müssen nach êzîdîscher Tradition vor Betreten der Brücke ihre Schuhe ausziehen. Der Boden des Lalish-Tals darf nur barfuß oder mit Socken betreten werden. Zudem sind die Pilger, Männer wie Frauen, in der Regel dazu angehalten, ihr Haupt zu bedecken.

4.1 Rituelle Reinigung

Nachdem die Pilger die Brücke erreicht haben, begeben sie sich barfuß auf die Brücke und segnen sich, indem sie die Säulen der Pforte mit ihren Lippen oder ihrer Hand berühren. Mit dem Wasser des unter der Brücke verlaufenden Baches werden i.d.R. zuvor die Hände gereinigt. Es folgt ein symbolischer Akt der spirituellen Reinigung, indem die Pilger die Brücke dann in einem für sie möglichst schnellen Tempo dreimal überqueren. Bei jeder Überquerung berühren sie dabei die Pforte und den Stein am Ende der Pforte mit ihrer Hand oder den Lippen. Dabei bitten sie Gott um Verzeihung für die von ihnen begangenen schlechten Taten. Erst dann darf der Lalish-Komplex besucht werden.

Dieser Ritus dient der Vergegenwärtigung der dem Menschen gebotenen Demut, indem er die Pilger dazu anhält, sich gemeinsam mit anderen auf eine symbolische Ebene der Gleichheit zu begeben, so wie es in den sakralen Überlieferung der Êzîden immer wieder gefordert wird.

Es soll die Pilger an die Vergänglichkeit des Lebens und an ihre moralische Verantwortung im Leben erinnern.

4.2 Religiöse Praxis

Eine religiöse Tradition ist zudem, dass beim Besuch des Bavê Sheikh und weitere ihm folgenden Würdenträger, dieser sich zunächst zur Pira Selatê begibt. Dort wartet er auf die im Heiligtum lebenden Würdenträger, den Bavê Çawîş sowie die Feqîrê und die Tempeldienerinnen (Feqra), die ihn in Emfpang nehmen. Die höchste Tempeldienerin geht der Gruppe dann vor und leitet sie in den Lalish-Tempel.

Zum Cimaya Şîxadî, dem Fest zu Ehren Sheikhadis, wird am sechsten Tag die sog. Berê Şibakê (rechteckige Bahre) vom Dorf Bahzan zunächst zur Pira Selatê gebracht. Dort angekommen, wird die Bahre in einer Prozession vom Bavê Sheik, Qewals und den religiösen Instrumenten Def û Shibab in Empfang genommen, ehe sie weiter zum Lalish-Komplex getragen wird.

4. Allgemeines

Die Pira Selatê ist etwa 10m lang und zwei Meter breit und wurde im Zuge der Erneuerung und Restaurierung des Lalish-Tempels in den vergangenen Jahren ebenfalls erneuert. Die die Brücke überragenden Bäume gelten als heilig und dürfen nicht gefällt werden. Unterhalb der Brücke fließt ein schmaler Bach, dessen Wasser von der heiligen Quelle Kaniya Berbaykê oberhalb des Tempels im Gebirge von Mishrugiya liegt. Das Wasser durchquert auch die Tempelstätte von Siltan Êzî und gilt daher als Verbindung der Brücke mit der Heiligkeit Tawisî Meleks. Das Wasser, das unter der Pira Selatê durchfließt, darf für den Alltag genutzt werden, da die Heiligkeit des Bodens nach Durchqueren der Brücke endet.

Quellen
  • Kreyenbroek, Philip G., und Khalil Jindy Rashow. God and Sheikh Adi are Perfect: Sacred Poems and Religious Narratives from the Yezidi Tradition. Wiesbaden: Harrassowitz Verlag, 2005.
  • Kreyenbroek, Philip G. Yezidism: Its Background, Observances, and Textual Tradition. Lewiston, NY: Edwin Mellen Press, 1995.
  • Omarkhali, Khanna. The Yezidi Religious Textual Tradition: From Oral to Written – Categories, Transmission, Scripturalisation and Canonisation of the Yezidi Oral Religious Texts. Wiesbaden: Harrassowitz Verlag, 2017.
  • Spät, Eszter. The Yezidis. London: Saqi Books, 2005
  • Açikyildiz, Birgül. The Yezidis: The History of a Community, Culture and Religion. London/New York: I.B. Taurus, 2010
  • Bari, Pîr Dimitri. Lalişa Nûranî. Yekatêrînbûrg: Basko, 2008.
  • Hurmi, Heso. „Cejna Çilê Havînê“. In: Cejnên Êzdiyan, hrsg. von Dengê Êzdiyan, S. 128. Oldenburg: Dengê Êzdiyan, 2012.