Kaniya Sipî – Die weiße Quelle

Art. Nr. Autor Datum
121 Hayrî Demir 22.04.2017
Name

Der Begriff „Kaniya Sipî“ bedeutet „weiße Quelle“ oder auch „reine Quelle“ und ist eine im Êzîdentum heilige Wasserquelle.  Der Name wurde der Quelle aufgrund ihrer mythologischen Bedeutung im êzîdîschen Schöpfungsmythos verliehen. In der êzîdîschen Farbenlehre steht der Begriff „Sipî“ neben seiner wörtlichen Definition von „Weiß“ auch für Reinheit und Sauberkeit.

Tempeldienerin vor dem Kaniya Sipî in Lalish

Quelle

Die weiße Quelle entspringt im Lalish-Tal im sogenannten Hügel von Mishete. Von dort fließt sie Mitten in den Lalish-Tempelkomplex.

Mythologische Bedeutung

In den êzîdîschen Überlieferungen nimmt die weiße Quelle eine herausragende Bedeutung ein. So wird die weiße Quelle sowohl im Glaubensbekenntnis der Êzîden als auch in zahlreichen Gebeten erwähnt. Wasser ist in der êzîdîschen Lehre eine der vier heiligen Grundelemente, aus denen die Welt erschaffen wurde[1]. Kaniya Sipî gilt als Urquelle und ist wesentlicher Bestandteil des êzîdîschen Schöpfungsmythos.

Darin heißt es, dass die Erde zunächst nur aus einem unendlichen, tiefen und dunklen Meer bestand. Das Wasser des Meeres entsprang aus der Ur-Perle, die explodierte und aus ihr die feste Materie entstand[2]. Ezda (Gott) beauftragte die Engel, die Schöpfung der Erde zu vollenden. Als die Engel in allen vier Himmelsrichtungen auf dem Meer umherwanderten, blieben sie an einer Stelle stehen und warfen die „Hefe“ (siehe Schöpfungsmythos) ins Meer. An dieser Stelle entsprang die weiße Quelle „Kaniya Sipî“, aus deren Reinheit die „sieben Himmel“ erschaffen und Himmel und Erde getrennt wurden. Nach vierzig Jahren wurde der erste feste Ort der Welt an der weißen Quelle, das Lalish-Tal, herabgesandt.

Die weiße Quelle bildet so in der êzîdîschen Religionslehre mit dem Lalish-Tal den „Nabel der Welt“, das Zentrum der Erdschöpfung und gilt als reiner Ort. Auch der im êzîdîschen Schöpfungsmythos erwähnte Weltenbaum (Dara Herherê) steht auf dem Kaniya Sipî.

Im Glaubensbekenntnis der Êzîden wird die weiße Quelle als Siegel („Mor“) bezeichnet[3].

Mor Kirin – Besiegeln

Junger Êzîde bei der Besiegelung

Alle Êzîden sollen bei Möglichkeit einmal in ihrem Leben mit dem Wasser des Kaniya Sipî gesegnet und ihre Zugehörigkeit zur êzîdîschen Religion besiegelt werden. Êzîden, die in der Nähe des Lalish-Tales leben, bringen ihre Kinder wenige Monate nach der Geburt zur Besiegelung.

Dieser taufähnliche Vorgang wird als „mor kirin“ bezeichnet, was „besiegeln“ bedeutet. Das Wasser des Kaniya Sipî wird dazu von einer bestimmten Tempeldienerin im Tempel des Kaniya Sipî über den Kopf geträufelt, währenddessen sie ein Gebet spricht. Nach dem Gebet wird ein kleiner Schluck der weißen Quelle getrunken. Der Vorgang dauert in der Regel nur wenige Sekunden. Die Besiegelung von Kleinkindern wird in der Regel groß zelebriert, wofür Verwandte und Bekannte gemeinsam der Besiegelung beiwohnen und anschließend zusammen feiern.

Die Taufe wird für Frauen und Männer separat vorgenommen, da das gemeinsame Betreten der Quelle als symbolischer Akt der Vereinigung verstanden wird, wonach Mann und Frau wie Geschwister zu behandeln sind. Daher werden verheiratete Paare stets separat von der Tempeldienerin gesegnet. Anders ist dies, wenn etwa das gemeinsame Kind besiegelt wird. Dann dürfen sowohl Vater als auch Mutter anwesend sein.

Auch die bedeutungsvollen „Berat“, kleine aus dem Kalk des Lalish-Tempel hergestellte Kugeln, müssen mit dem Wasser des Kaniya Sipî geformt und gesegnet werden, ehe sie an die Êzîden verteilt werden. Sowohl die Herstellung als auch die Besiegelung der Berat-Kugeln ist den Tempeldienerinnen in Lalish vorbehalten.

Dayê Esmer

Micêwira Kaniya Sipî

Das Besiegeln mit dem Wasser des Kaniya Sipî ist nur der sogenannten „Dienerin der weißen Quelle“ (Micêwira Kaniya Sipî) vorbehalten. Nur wenn sie die Tauf-Zeremonie durchführt, hat das Siegel nach êzîdîscher Tradition Gültigkeit. Die derzeitige Micewir der weißen Quelle ist Dayê Esmer.

Quba Kaniya Sipî – Tempel der weißen Quelle

Über der Quelle des Kaniya Sipî ist im Lalish-Komplex eine Kuppe („Qub) gebaut. Unter dieser Kuppe wird die Besiegelung vorgenommen. Seitlich der Kuppe verlaufen zwei Ausläufe der weißen Quelle, wodurch es den Besuchern ermöglicht wird, Wasser der heiligen Quelle abzufüllen und mitzunehmen. Zum Neujahr segnen die Êzîden damit ihr Brot, was sie anschließend an ihre Nachbarn verteilen. Auch hier sind beide Ausläufe aufgrund der Symbolik der weißen Quelle voneinander getrennt. Der linke Auslauf wird als „Kaniya kecikan“ (Quelle der Mädchen) bezeichnet, der rechte als „Kaniya kurikan“ (Quelle der Jungen).

Kuppe und Eingang zum Tempel der weißen Quelle

Vor dem Tempel der weißen Quelle wird jährlich ein Tanz aufgeführt, der „Dîlana derê Kaniya Sipî“ genannt wird. Dabei versammeln sich Pilger und Würdenträger vor der Kuppel und führen einen Tanz auf, während die heiligen Instrumente „Def û Şîbab“ gespielt werden. In zahlreichen weiteren religiösen Zeremonien und Feiern ist das Wasser der weißen Quelle zentraler Bestandteil.

Junger Êzîdî schöpft Wasser aus der weißen Quelle zur Säuberung des Hofes des Lalish-Tempels

Da das Wasser des Kaniya Sipî als heilig gilt, sind etwaige körperliche Waschungen und ähnliches strengstens untersagt. Hierfür existieren in Lalish spezielle weitere Quellen, die zu dieser Nutzung vorgesehen sind. Der Hof des Lalish-Tempels wird mit dem Wasser der heiligen Quelle gereinigt.

Quellen 

[1] Feqîr Hecî, Bedel: „Bawerî û Mîtologiya Êzidîyan: Çendeha Têkist û Vekolîn“, Duhok, 2002, S. 188.

[2] Pîr Dîma; L. Îavasko; S. Grîgoriyêv: „Lalişa Nûranî – Peristgeha Êzidiyan“, Basko, 2008, S. 26.

Einzelnachweise
[1] Siehe „Qewlê afirandina dinyayê“
[2] Siehe „Qewlê zebûnî meksûr“
[3] „Şahda Dînî”

BatinBatin

Art. Nummer Autor Datum 28  Hayrî Demir 26.08.2011 Batin (dt. „Jenseits“, sinngemäß „spirituelle Welt“) bezeichnet