Erzengel – Heilige Siebenschaft

 

Art. Nummer Autor Datum Aktualisierung
82 Hayrî Demir 20.04.2014

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Allgemeines

Die êzîdîsche Lehre kennt sieben Erzengel, die sowohl im Schöpfungsmythos als auch in der Anthropologie sowie im täglichen religiösen Alltag eine primäre und zentrale Rolle einnehmen. Die Angelologie ist im Êzîdentum stark ausgeprägt, weshalb die Engel in der Hierarchie nach Khoda (kurd. Xweda) als zweite Instanz über weitreichende Funktionen verfügen, um damit den Willen Khodas auf der Erde durchzusetzen. Schließlich wird auch das Kernprinzip der êzîdîschen Lehre durch den obersten der Heiligen Siebenschaft – so eine weitere Bezeichnung der Erzengel – durch den Erzengel Tawisî Melek personifiziert. Engel bedeutet sprachfamilienübergreifend „Melek“, seltener wird in der êzîdîschen Lehre auch der indo-iranische Begriff „Firişte“ (فرشته) verwendet.

Ursprung

Der Ursprung der Heiligen Siebenschaft der êzîdîschen Lehre geht auf die Mythologie der Babylonier zurück, die auf Grundlage ihrer Astronomie sieben sichtbare Planeten ihren sieben Göttern zuordneten. Im Mittelpunkt stand dabei der Merkur, der dem Wochentag Mittwoch zugeordnet ist. Der Mittwoch ist noch heute der heilige Ruhetag der Êzîden und steht im Zeichen von Tawisî Melek. Die heutige Sieben-Tage-Woche hat ihren Ursprung unter anderem ebenfalls in der babylonischen Mythologie bzw. Astronomie. Es ist wahrscheinlich, dass die Heilige Siebenschaft daher ehemals Götter darstellten, ehe sie im Siegeszug des Monotheismus zu Engel degradiert wurden. Dies gilt sowohl für die êzîdîschen als auch die abrahamitischen Erzengel. Unmittelbar nach der Schöpfung des Kherqe (kurd. Xerqe), einem heiligen Gewand frommer Würdenträger, wurden die sieben êzîdîschen Erzengel geschaffen. Sie sind aus dem heiligen Licht des Schöpfer-Gottes Khoda hervorgebracht worden.

[toggle_content title=“Qewlê Zebûnî Meksûr, S. 36„]Padşê min reb il-´ezete – Mein König ist der Herr der Macht
Ji ewil efirandi milyakete – Am Anfang schuf er die Engel
Dana destê wan doj û cinete – In ihre Hände übergab Er die Hölle und das Paradies [/toggle_content]

[toggle_content title=“Qewlê Padşday, S. 5„]Padşê min rebê milyaket e – Mein König ist der Schöpfer der Engel
Rebê her heft surêt bi taqet e – Der sieben machtvollen Geheimnisse Her heft mêrêt bi heybet e – Der sieben ehrvollen Heiligen [/toggle_content]

[toggle_content title=“Qewlê afirandina dinyayê, S. 17„]Khodawendê me rebil semed – Mein Herr ist der Schöpfer von Semed
Afirandin heft milyaket – Schuf sieben Engel Cuda kir dojeh û buheşt – Trennte Himmel und Hölle [/toggle_content]

Die Frage, ob die Engel nun aus dem Licht oder aus der Ur-Perle stammen, erübrigt sich, da die Ur-Perle selbst auch aus dem Lichte Khodas entstand. Es heißt, dass jeder Engel aus dem Lichte des anderen hervorgebracht wurde.

[toggle_content title=“Qewlê Şêxûbekir S. 15, R. 3„]Melek yek bû bûne du ye – Es war ein Engel und es wurden zwei
Melek dû bûn bûne sê ye – Es waren zwei Engel und wurden drei
Melek sê bûn bûne çar e – Es waren drei Engel und wurden vier
Melek çar bûn bûne pênc e – Es waren vier Engel und wurden fünf
Melek pênc bûn bûne şeş e – Es waren fünf Engel und wurden sechs
Melek şeşbûn bûne heft e – Es waren sechs Engel und wurden sieben [/toggle_content]

Jedem der insgesamt sieben Erzengel ist ein Wochentag zugeordnet. Die Vorstellung einer Heiligen Siebenschaft existierte bereits in der mythologischen Vorstellungswelt der Babylonier und Sumerer, die später ihren Weg in die Religion der Zoroaster und schließlich ins Judentum, Christentum und von diesen in den Islam fand. Wichtig ist hierbei der besondere Verweis darauf, dass die Engel aus dem Licht des Schöpfer-Gottes hervorgebracht wurden, womit sie einen Teil Khodas in sich tragen. Diese Eigenschaft wird als „Sira Milyaketa“, dt. das Geheimnis der Engel, bezeichnet. Dieses „Sir“ meint unter anderem die Fähigkeit des freien Willens (Verstand), was in einer späteren Phase des Schöpfungsmythos von entscheidender Bedeutung sein wird.

[toggle_content title=“Qewlê Padşay, S. 5, R. 2„]Rebê her heft surêt bi taqet e – Der Schöpfer der sieben machtvollen Geheimnisse [/toggle_content]

Nach ihrer Erschaffung verpflichteten sie sich der „Wahrheit“ und auf den Glauben bzw. die Loyalität gegenüber Khoda. Als Wahrheit ist in den Qewls die Belehrung der Engel durch Khoda gemeint: Khoda mahnte die Engel, dass nur Er ihr Schöpfer und der Allmächtige sei, weshalb sie nur Ihn anbeten dürften.

[toggle_content title=“Qewlê Şêxûbekir, S. 21„]Her heft ku di-éfirîn – Alle Sieben die erschaffen wurden
Bi rastiyê lêk di-êwirîn – Die Wahrheit wurde ihnen anvertraut
Bi muhbetê bi nedera yek di debirîn – Mit der Liebe, dass sie in Einheit existieren [/toggle_content]

[toggle_content title=“Dua Baweriyê, S. 12„]Pedşa bawirî û rastî danîn linava meleka – Der König übertrug den Glauben und die Wahrheit den Engeln
Bi wan ava kirin çarde tebeqe – Mit ihnen erschuf Er vierzig Sphären
Pedşa heqe û navê wi heqe – Der König ist die Gerechtigkeit und Sein Name das Recht [/toggle_content]

Des Weiteren werden die weitreichenden Kompetenzen der Engel nur durch ihre Einheit legitimiert. Die Erzengel halten aus Nächstenliebe stets zusammen. Aus dieser Einheit und der Liebe zueinander heraus einigten sie sich zu einem späteren Zeitpunkt auf einen Führer.

[toggle_content title=“Dua Tifaqê, S. 6, R. 1-2„]Neder xoş nedere – Wie schön es ist
Her heft meleka li nav xo danîn mehdere – Alle sieben Engel suchen die Gegenwart des anderen [/toggle_content]

[toggle_content title=“Dua Tifaqê, S. 7„]Meleka cinet û cehinime çêkir – Die Engel formten Paradies und Hölle
Bi wê tebayê not û neh hezar reng lêkir – Neunundneunzigtausend Farben gaben sie ihnen
Lew mifte li destê Melekê Xêrê kir – Den Schlüssel legten sie in die Hände des Guten Engels (Tawisî Melek) [/toggle_content]

Weiterhin heißt es, dass Khoda zwischen sich und seinen Schöpfungen, hier zunächst die Engel, das kurd. „Perde (dt. Vorhang)“ gelegt hat. Es meint, dass niemand Khoda gesehen hat oder sehen kann. Qewlê Tawisî Melek Xudan malî xudan perde – Schutzpatron der Familien und des Vorhanges In der êzîdîschen Religion tragen die Erzengel einen Dies- und Jenseitsnamen (kurd. Dahir û Batin). Im Diesseits sind sie als heilige Persönlichkeiten zu den Êzîden gekommen, um sie und ihre Religion zu bewahren und zu pflegen. Die Namen und die Bedeutung der 7 Erzengel sind folgende: […]Cibrayîl, Ezrayîl, Mîkayîl Şifqayîl, Derdayîl, Ezafîl, Ezazîl [Dua Êvarê, S. 11].

Der Pilgerort der Engel, wo sie Xweda huldigen, ist der sog. „Weltenbaum“ (kurd. Dara Herherê), den der Schöpfer-Gott nach der Explosion der Perle erschaffen hat.

[toggle_content title=“Dua Ziyaretbûn, S. 10„]Xudê dara herherê xuliqand – Gott erschuf den ewigen Baum
Meleka ziyaret kir pêra sediqand – Die Engel pilgerten dorthin und überzeugten sich
´Erş û kursî ´efirand – Der Thron und Sitz wurde geschaffen [/toggle_content]

Weiterhin sind die Engel die Wächter der Himmelstore.

[toggle_content title=“Dua Ziyaretbûn, S. 15„]Melek li dergehê ´ezmana rawestane – Vor den Toren des Himmels weilen die Engel [/toggle_content]

Das Sur (Geheimnis), das der Seele innewohnt, wird von den Erzengeln selbst überwacht. Bei der Schöpfung der Erde spielen die sieben Erzengel eine bedeutende Rolle. Nur durch ihre Einheit und ihre Loyalität zueinander und zu Xweda war es ihnen möglich, bei der Erdschöpfung mitzuwirken (s.o). Die Erzengel versammelten sich am Weltenbaum und Khoda sprach etwas Unbekanntes zur Perle bzw. zum Juwel, in dessen weiteren Verlauf die Erde erschaffen worden ist (weitere Bedeutung der Erzengel innerhalb des Schöpfungsmythos).

Bedeutung der einzelnen Erzengel

1. Melek Ezrayîl welcher sich in der Gestalt von Șêx Nasirdîn gezeigt hat. Melek Ezrayîl trennt beim Tod eines Esidi die Seele vom Körper, weshalb er als „Meister des Messer“ bezeichnet wird.

2. Melek Cibrayîl welcher sich in der Gestalt von Șêx Sicadîn gezeigt hat. Zusammen mit Melek Ezrayîl spielt er die zweite Funktion beim dem Vollzug des Tod eines Êzîdî. Er überbringt die Botschaft Khodas den Menschen und hilft Melek Ezrayîl dabei, den Tod zu vollziehen.

3. Melek Mîkayîl welcher sich in der Gestalt von Șêx Fexredîn gezeigt hat. Er ist der Schutzpatron aller Heiligen und der 72 Völker, womit alle Völker der Welt gemeint sind.

4. Melek Şifqayîl, auch Şemqayîl genannt, welcher sich in der Gestalt von Șêx Șemsedîn gezeigt hat. Er ist der Sonnenengel und für das Überleben zuständig, indem er die Strahlen der Sonne zur Erde befördert und die Menschen so leben und sich von der Natur nähren können.

5. Melek Derdayîl welcher sich in der Gestalt von Șêx Șêxûbekir gezeigt hat. Er ist für das ausgleichende Zusammenspiel von Erde und Himmel zuständig und wird als „Mewla“, dt. ehrenwerter Herr, bezeichnet.

6. Melek Esrafîl welcher sich in der Gestalt von Șêx Sin (Șêx Hesen) gezeigt hat. Er wird als „Qelema îmanê“, dt. Schreiber der Überzeugung, bezeichnet. Es liegt an ihm, die Menschen von dem Bekenntnis zu Khoda zu überzeugen.

7. Melek Azazîl, der den bedeutenden Beinamen Tawisî Melek trägt und sich in der Gestalt von Șêx Adî gezeigt hat. Tawisî Melek ist der oberste Erzengel und deren Führer. Er nimmt eine herausragende Stellung innerhalb der êzîdîschen Religionslehre ein. Er ist der Verwalter der Erde. Es heißt, dass auch die Engel, insbesondere Tawisî Melek, das Kherqe tragen.

[toggle_content title=“Dua Baweriyê, S. 9, R. 1 & 2„]Meleka bawirî pê anîn – Die Engel glaubten daran
Xerqe birin li ser xora danîn – Sie nahmen das Kherqe und zogen es sich über [/toggle_content]

[toggle_content title=“Qewlê Xerqe, S. 1, R. 3 & 4„]Xerqe libsê Xwedê û – Das Kherqe ist das Gewand Gottes und
Tawisî Melek bi xwe bû – des Tawisî Meleks selbst [/toggle_content]

Der Sema-Tanz, der während der Cimaya Şîxadî Feier im Heiligtum Lalish von hohen Würdenträgern zelebriert wird, wird auch als Tanz der Engel bezeichnet.


Quelle

Demir, Hayrî: Der êzîdîsche Schöpfungsmythos. Teil I-III, in: Laliş-Dialog, Ausgabe 1 bis 3