Art. Nummer Autor Datum Aktualisierung
77 Hayrî Demir 23.09.2013

DurName

Die Urperle, aus der nach êzîdîscher Vorstellung das gesamte materielle Sein hervorgegangen ist, wird in den sakral êzîdîschen Texten als „Dur“ bezeichnet[1]. Der Begriff „Dur“ ist ein iranischer Begriff und bedeutet sowohl im Kurdischen (Dur) als auch im Persischen und im Pashto (در) Perle.

Die êzîdîsche Mythologie der Bedeutung der Urperle „Dur“ spiegelt sich auch in der kurdischen Sprache wieder, wo der Begriff „Dur“ auch für „Urknall“ steht[2].

Entstehung

Die Urperle spielt besonders beim Schöpfungsmythos aber auch darüber hinaus eine maßgebliche Rolle. Zu Beginn des êzîdîschen Schöpfungsmythos herrschte das sog. „Enzel“-Stadium. Das Enzel-Stadium ist ein raum- und zeitloser Zustand, der als Sphäre hinter der profanen bzw. materiellen Welt gesehen werden kann[3]. In diesem Enzel-Stadium existierte zunächst nur Xweda, dt. Gott, der sich selbst erschaffen hat.

Aus sich selbst bzw. aus seinem Licht heraus, erschuf Xweda eine weiße Perle (kurd. Dur), in welcher sich Sein leuchtender Thron (kurd. Textê nûrî) befand.

[toggle_content title=“Qewlê Bê Elif, S. 6, R. 1„]
Padșê min bi xo efirandî dura beyzaye – Mein König erschuf aus sich die weiße Perle
[/toggle_content]

[toggle_content title=“Qewlê Șêxûbekir, S. 4, R. 1„]

Padşê min dur ji xwe çêkir – Mein König erschuf die Perle aus sich[/toggle_content] 

[toggle_content title=“Qewlê Bê Elif, S. 1, R. 2„]
Textê nûrî sedef – Der leuchtende Thron in der Perle[/toggle_content] 

Die Vorstellung das Leben bzw. das Sein sei aus einer Perle o.Ä. hervorgegangen, finden wir in den unterschiedlichsten Kulturen der Welt wieder. So auch im arischen Schöpfungsmythos, der in der Rigveda zu finden ist:

Von Dunkel war die ganze Welt bedeckt,
Ein Ozean ohne Licht, in Nacht verloren
Da ward, was in der Schale war versteckt
Das Eine durch der Glutpein Kraft geboren[4]

Mit der Perle war Xweda eins, sodass Er von ihr nicht zu unterscheiden war.

[toggle_content title=“Qewlê Bê Elif, S. 2, R. 1„]
Padșê min li navdayî mixfî bû – Mein Herr war verborgen/unkenntlich in ihr [der Perle}[/toggle_content] 

Xweda, der bisher in der Perle verborgen war und mit Ihr eine Einheit bildete, löste sich vom Inneren der Perle und bewegte sich in ihr umher.

[toggle_content title=“Dûa Bawerîyê, S. 3, R. 3„]
Bi wê bawiriyê xo ji nava durê cihêkir – Mit dem Glauben trennte Er [Gott] von der Perle

S. 4, R. 1
Pedşa li durê geriya – Mein König fuhr in der Perle umher[/toggle_content] 

Da füllte Wasser das Innere der Perle und ein sanfter, ruhiger Ozean entstand.

[toggle_content title=“Dûa Bawerîyê, S. 4, R 2, 3„]
Av jê weriya – Wasser floss aus ihr
Bu behr pengiya – Und wurde zu einem ruhigen Meer[/toggle_content] 

Wasser bzw. die Darstellung von Ozeanen, Meeren etc. symbolisieren in der êzîdîschen Lehre die tiefe, unendliche Weisheit und wird im Kurdischen wie in den heiligen Überlieferungen als „Behrê kûr“ (dt. tiefes Meer) bezeichnet. Auch die Darstellung bzw. die Vorstellung von einem vorzeitlichen Meer zu Schöpfungsbeginn finden wir in vielen Mythen der alten Völker wieder.

[toggle_content title=“Qewlê Padșayî, S. 31„]
Padşê min nûr e – Mein König ist das Licht
Ew ji me neyî dûr e – Er ist nicht weit von uns
Yî alime bi erd û ezman û behrêt kûr e – Er ist der Gelehrte auf der Erde, dem Himmel und im tiefen Meer[/toggle_content] 

Danach erschuf Xweda die Liebe aus sich selbst und die Perle, die Er bereits zuvor von sich loslöste, begann an Stabilität zu verlieren.

[toggle_content title=“Qewlê zebûnî meksûr, S. 6„]
Pedşê min ji durê bû – Als der Herr sich in er Perle befand
Hisnatek jê çêt bû – Sich ein Wunsch von Ihm entband
Şaxa mehebetê lê bû – Und so der Zweig der Liebe entstand[/toggle_content] 

Der Urknall

Erst als Xweda die Perle von sich trennte, weil er den Beginn der materiellen Welt in Gang setzen wollte, wurde die Perle schwach.

Die gebrechlich gewordene Perle färbte sich mit den Farben Weiß, Rot und Gelb als Zeichen des Lebens. Sie begann zu glänzen (strahlen), zerberstete in Abermillionen Teile und wurde endgültig von Xweda getrennt.

[toggle_content title=“Qewlê zebûnî meksûr, S. 9, 10, 11 (R. 1, 2)„]
Kire rikin û rikinî – Das Fundament [Liebe] wurde gelegt und etabliert
Dur ji heyibetê hinçinî – Aus Ehrfrucht explodierte die Perle
Taqet nema hilgirî – Sie verlor die Kraft geduldig zu sein

Taqet nema li ber bisebirî – Sie hatte keine Kraft mehr geduldig zu sein
Dur bi renga xemilî – Die Perle schmückte sich mit farben
Sor bû sipî bû sefirî – Sie wurde rot, weiß und gelb

Dur bi renga geş bû – Die Perle glänzte mit den Farben
Berî ne erd hebû, ne eziman hebû, ne erş hebû – Vorher gab es weder Erde, noch Himmel, noch den heiligen Thron[/toggle_content] 

Aus dem Staub der zerborstenen Perle und der Liebe als Fundament konnte nun die materielle Welt geschaffen werden und die nächste Stufe des Schöpfungsmythos begann.

Das materielle Sein

In einer êzîdîschen Legende heißt es, dass aus dem Staub der Perle die Planeten und Galaxien entstanden sind. Der Pilgerort der Engel, wo sie Xweda huldigen, ist der sog. „Weltenbaum (kurd. Dara Herherê)“ den der Schöpfer-Gott nach der Explosion der Perle erschaffen hat.

In der spirituellen Welt Enzel existierte ein unendliches Meer in dessen Zentrum [Weltenbaum] eine Perle, oft auch als Juwel bezeichnet, verborgen war. Die Erzengel versammelten sich am Weltenbaum und Xweda sprach etwas Unbekanntes zur Perle bzw. zum Juwel. Und er warf das Geheimnis Liebe inmitten der Perle, woraus er Sonne und Mond schuf, die die Augen Xwedas, also die sichtbaren Symbole Xwedas, sind.

Die/das Perle/Juwel zerbrach und wieder floss eine Unmenge an Wasser aus ihr. Es war das Meer der Erde, die zu diesem Zeitpunkt noch dunkel  war und weder Erde (Boden) noch Himmel existieren.  Das Meer war die weiße Quelle, die den Esiden heilig ist und als „Kanîya sipî“ bezeichnet wird. [5]

Neujahr und die Urperle

An die Urperle wird jedes Jahr zum Neujahrsfest der Êzîden, dem sog. „Çarșema sor“ (dt. Roter Mittwoch) in Form von gefärbten Eiern als Stilisierung der Urperle erinnert. Der Tag des Neujahrsfest, stets der 1. April nach êzîdîschem Kalender, ist zugleich Frühlingsbeginn. Die Farben der von neuem aufblühenden Natur stellen dabei den Neuanfang des Lebens dar, die gefärbten Eier als Perle Dur den Neubeginn.

Quellen

  1. Dr. Omerxalî, Xanna: Some reflections on concepts of time in Yezidism, in: From Daênâ to Din, Festschrift für: Prof. Dr. Kreyenbroek, hrsg. v. Christine Allison, Anke Joisten-Pruschke, Antje Vendtland, Wiesbaden 2009
  2. Demir, Hayrî: Der êzîdîsche Schöpfungsmythos. Teil I, in: Laliş-Dialog, Ausgabe 1 – 1/2013, S. 5f.
  3. Demir, Hayrî: Der esidische Schöpfungsmythos. Teil II, in: Laliş-Dialog, Ausgabe 2 – 2/2013, S. 6f.

[1] Demir, Hayrî: Der êzîdîsche Schöpfungsmythos. Teil I, in: Laliş-Dialog, Ausgabe 1 – 1/2013, S. 5f.

[2] Siehe z.B. Ferheng.org

[3] Dr. Omerxalî, Xanna: Some reflections on concepts of time in Yezidism, in: From Daênâ to Din, Festschrift für: Prof. Dr. Kreyenbroek, hrsg. v. Christine Allison, Anke Joisten-Pruschke, Antje Vendtland, Wiesbaden 2009, S. 334

[4] Demir; 2013, S. 5f.

[5] Demir, Hayrî: Der esidische Schöpfungsmythos. Teil II, in: Laliş-Dialog, Ausgabe 2 – 2/2013, S. 6f.

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